Johannes Vermeer. Vom Innehalten

Intro

Vermeer Vom Innehalten 10.9.2021
–2.1.2022
2021
Gemäldegalerie
Alte Meister

Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59 Johannes Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische

Den Blick gesenkt, hält die junge Frau den Brief mit beiden Händen. Er ist zerknittert - offenbar liest sie ihn nicht zum ersten Mal. Die Sicht auf ihren Raum ist durch einen illusionistisch gemalten Vorhang eingeschränkt. Zum Teil überdeckt er auch ein Gemälde, das einen jungen Liebesgott (Cupido) zeigt. Er offenbart uns, warum der Brief dem Mädchen wohl so kostbar ist.

Die kürzlich abgeschlossene Restaurierung des Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster von Johannes Vermeer hat den blonden Liebesgott und andere Details im Bild wieder zum Vorschein gebracht.

Delft

Delft im 17. Jahrhundert Vortreffliche Stadt

Johannes Vermeer, Häuseransicht in Delft (Die kleine Straße), um 1658 Öl auf Leinwand, 54,3 x 44 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. SK-A-2860, Amsterdam, © Rijksmuseum, Foto: Carola van Wijk

In der Republik der Vereinigten Niederlande herrschte im 17. Jahrhundert eine aristokratisch-bürgerliche Regierung. Die Regenten der einzelnen Provinzen arbeiteten in einem föderalen System zusammen. Im Zuge des 80-jährigen Krieges errangen die nördlichen Provinzen ihre Unabhängigkeit von der Spanischen Krone und wurden zu einer führenden Wirtschaftsmacht. Der Westfälische Friede 1648 führte zur endgültigen Anerkennung als souveräner Staat.

Schematische Landkarte der Niederlande im 17. Jahrhundert Dresden © Sandstein Kommunikation GmbH

Delft hat so viele Brücken wie das Jahr Tage hat, und ebenso viele Grachten und Wasserstraßen, auf denen die Schiffe hin- und herfahren.

1636 William Crowne, englischer Reisender

Vermeers Heimatstadt Delft spielte im Un­ab­hängigkeitskrieg der niederländischen Provinzen eine wichtige Rolle. Um 1650 zählte sie zu den fünf größten Städten der Niederlande und hatte einen geschäftigen Hafen. Brauereien, Keramikmanufakturen und Teppichwirkereien bildeten das Fundament ihrer starken Wirtschaft. Die Herstellung der Delfter Fayencen entwickelte sich zu einem Verkaufsschlager im In- und Ausland. Der Sitz der Niederländischen Ostindien-Kompanie brachte der Stadt durch den Seehandel mit Gewürzen, Porzellan und Luxusgütern zusätzlichen Reichtum.

Von 1572 bis zu seiner Ermordung 1584 residierte in Delft Wilhelm von Oranien (1533-1584), einer der wichtigsten Anführer des Aufstandes gegen die Spanier und später erster Statthalter der jungen Republik.

Daniel Vosmaer, Delft von einer imaginären Loggia aus, 1663 Öl auf Leinwand, 90,5 x 113 cm, Delft, Stedelijk Museum, Het Prinsenhof, Leihgabe des Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed (RCE), Inv.-Nr. NK 2927, Delft, © Collection Museum Prinsenhof, On loan from the Cultural Heritage Agency of the Netherlands, Foto: Tom Haartsen
Johannes Janssonius, Theatrum urbium (8 Bde.), Delfi Batavorum Vernacule Delft (Stadtplan von Delft) (1 : 4 000), um 1657 Kolorierter Kupferstich, 59 x 43,6 cm (Blatt), Dresden, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek, SIgnatur: Geogr.A.230-3 (Blatt 73), Dresden, © Sächsische Landesbibliothek – Staats und Universitätsbibliothek / Deutsche Fotothek

Wissen schafft Wohlstand

Bildung und Wissenschaft hatten in den Niederlanden einen hohen Stellenwert. Neben den Universitäten entstanden moderne, in Niederländisch unterrichtende Schulen. Ein gesellschaftliches Umdenken in Fragen der Religion und Philosophie brachte die Naturwissenschaften zum Erblühen. Empirisch betrieben, stellten neue wissenschaftliche Erkenntnisse das dogmatische Wirken der Kirche, nicht aber Gott selbst in Frage. Für die Seefahrt, die Landgewinnung und den Handel der Niederlande waren Neuerungen in Wissenschaft und Technik existenziell, um wirtschaftlich konkurrenzfähig zu bleiben.

Delft schaut genau hin

Obgleich Delft keine Universität besaß, war die Stadt ein Zentrum der Naturwissenschaften. In elitären, international vernetzten Kreisen beschäftigte man sich mit Fragen der Optik und Mikroskopie, mit Mathematik und deren Anwendung in der Landvermessung und Perspektive. Der Chirurg, Landvermesser und Notar Jacob Spoors publizierte 1638 eine Abhandlung zu Fragen der Mathematik und Geometrie. Er beschrieb die Rolle der Perspektive und Optik sowie des Lichtes für das Entstehen eines idealästhetischen Bildes. Wahrscheinlich beeinflusste er auch das Schaffen Vermeers, der Spoors persönlich kannte. Antoni van Leeuwenhoek, Tuchhändler und städtischer Beamter, entwickelte ein Handmikroskop, mit dem er Bakterien und rote Blutkörperchen untersuchte. Die dafür notwendigen Linsen hatte er selbst geschliffen. Er wurde nach Vermeers Tod als dessen Nachlassverwalter bestellt.

„Sphinx von Delft“?

Johannes Vermeer Die „Sphinx von Delft“?

Johannes Vermeer, Das Mädchen mit dem Weinglas, um 1658/59 Öl auf Leinwand, 77,5 x 66,7 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen, Inv.-Nr. GG 316, Braunschweig, © Herzog Anton Ulrich-Museum, Foto: Claus Cordes

Johannes Vermeer – heute ein Popstar unter den Künstlern des so genannten Goldenen Zeitalters der Holländischen Malerei – war nach seinem Tod vergessen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er dank des Engagements des französischen Kunsthistorikers Théophile Thoré-Bürger als Künstler­persönlichkeit wieder­entdeckt. Thoré-Bürger war es auch, der dem damals noch geheimnisumwitterten Maler den Beinamen „Sphinx von Delft“ verlieh.

Johannes Vermeer wurde 1632 als Kind eines Seidenwirkers, Gastwirts und Kunsthändlers in Delft geboren. Nach seiner Ausbildung zum Maler heiratete er 1653 die wohlhabende Catharina Bolnes und konvertierte zum Katholizismus. Im gleichen Jahr wurde er als Meister in die St. Lukas-Gilde aufgenommen. 1660 zog die Familie in das Haus seiner Schwiegermutter, wo Vermeer bis zu seinem Lebensende wohnte und arbeitete. Wichtige Ämter in der Lukas-Gilde, seine Arbeit als Kunst­sachverständiger sowie hohe Gemäldepreise zeugen von der großen Wertschätzung, die ihm und seinen Werken zu Lebzeiten entgegengebracht wurde. Mit nur 43 Jahren starb Vermeer und hinterließ eine Witwe und elf Kinder.

Sehen wir hier ein Selbstbildnis von Johannes Vermeer? Unter Kunstwissenschaftlern wird diese Idee kontrovers diskutiert. Johannes Vermeer, Bei der Kupplerin, 1656, Öl auf Leinwand, 143 x 130 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1335, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Herbert Boswank

Auf dem Weg zum Genie

Zu Beginn seiner Karriere malte Vermeer Bilder mit mythologischen und christlichen Themen. Historienbilder galten als anspruchsvoll, genossen das höchste Ansehen und versprachen dem jungen Künstler die beste Aussicht auf ein gesichertes Einkommen.

Die Szene mit der Jagdgöttin Diana wird in den Metamorphosen des Ovid beschrieben: Beim Baden entdecken ihre Gefährtinnen die Schwangerschaft der Nymphe Callisto, die daraufhin verstoßen wird. Künstler nutzten diese Szene, um weibliche Akte und dramatische Gesten darzustellen. Vermeers Figuren jedoch sind bekleidet und verströmen meditative Ruhe; Callisto selbst steht im dunklen Hintergrund.

Johannes Vermeer, Diana und ihre Gefährtinnen beim Bade, um 1653/54 Öl auf Leinwand, 97,8 x 104,6 cm, Den Haag, Koninklijk Kabinet van Schilderijen, Mauritshuis, Inv.-Nr 406, Den Haag © Mauritshuis, Foto: Margareta Svensson

Das farbig kraftvolle, großfigurige Frühwerk Vermeers greift das populäre Thema der Fröhlichen Gesellschaft auf: Eine illustre Gruppe mit einem Freier in roter Jacke, der gerade eine junge Prostituierte bezahlt, drängt sich hinter der teppichverhangenen Balustrade. Mit dem einladenden Trinker im Renaissancekostüm, der schwarzverhüllten Kupplerin und dem Paar greift Vermeer auf Figurentypen aus Gemälden der sog. Utrechter Caravaggisten zurück, holländischen Malern, die in Italien die Werke Caravaggios studiert hatten.

Johannes Vermeer, Bei der Kupplerin, 1656 Öl auf Leinwand, 143 x 130 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1335, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Herbert Boswank

Mit stillen, poetischen Innenraumszenen hatte Vermeer Ende der 1650er Jahre sein Thema gefunden. Die junge Frau im Profil ist in das Lesen eines Briefes versunken. Ihre Garderobe, ihre Bildung und die feine Zurückhaltung ihrer Erscheinung entsprechen dem Frauenideal seiner Zeit. Der kleine Liebesgott im Bild an der Zimmerwand kommentiert die Szene: Liebe liegt in der Luft.

Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59 Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische

Vermeer unterrichtet sich selbst

Vermeer wird seine künstlerische Ausbildung um 1646-1653 erhalten haben. Es sind weder der Name eines Lehrers noch der Ort seiner Ausbildung überliefert. Fest steht, dass er sich zu Beginn seiner Karriere offenbar selbständig an verschiedenen Genres und Stilen schulte. Der Kunsthandel und die Beziehungen seines Vaters werden ihm dazu vielfältige Möglichkeiten eröffnet haben.

So ist der Phönix [Carel Fabritius], uns zum Verlust, nun tot Inmitten, ja auf der Höhe seiner Schaffenskraft Doch uns zum Glück stieg aus seines Feuers Glut Vermeer, der meisterlich in seine Pfade trat.

1667 Dirck van Bleyswijck

Johannes Vermeers Gesamtwerk ist klein, nur etwa 35 Gemälde sind erhalten. Innerhalb kürzester Zeit wechselte der junge Künstler von Historiengemälden zur klassisch-eleganten Genremalerei. Mit seinen gehobenen Alltagsszenen orientierte er sich am Geschmack des aufstrebenden holländischen Bürgertums. Seine Bildthemen und Formate änderten sich.

Ende der 1650er Jahre hat Vermeer seine pers­pek­tivischen Innen­raum­szenen mit mehreren Figuren weiterentwickelt. In einer Zimmerecke unterhält sich eine kleine, elegante Tischgesellschaft beim Weintrinken. Der ältere Galan scheint die aufrecht sitzende junge Frau in guten Um­gangs­formen zu unterrichten. Der Mann hinter dem Tisch wirkt distanziert und träge – eine Verkörperung des Lasters der Faulheit? Die allegorische Figur der Enthaltsamkeit in der Fensterscheibe und das strenge Herrenporträt an der Wand bilden ein inhaltliches Gegengewicht zur sinnlichen Szene.

Johannes Vermeer, Das Mädchen mit dem Weinglas, um 1658/59 Öl auf Leinwand, 77,5 x 66,7 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen, Inv.-Nr. GG 316, Braunschweig, © Herzog Anton Ulrich-Museum, Foto: Claus Cordes

Die Kleine Straße ist eine von zwei erhaltenen Stadtansichten Vermeers. Das Renaissancehaus mit seiner getreppten Backsteinfassade und der angrenzende Durchgang sind von Frauen und Kindern bei alltäglichen Beschäftigungen belebt. Vermeers Malstil wechselt zwischen erstaunlicher Detailtreue und fast impressionistisch anmutenden Partien, zwischen exakter Schilderung des Beobachteten und bildwichtigen Erfindungen. Vielleicht malte Vermeer hier das Haus seiner Tante, die Identifikation des Ortes ist jedoch umstritten.

Johannes Vermeer, Häuseransicht in Delft (Die kleine Straße), um 1658 Öl auf Leinwand, 54,3 x44 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. SK-A-2860, Amsterdam, © Rijksmuseum, Foto: Carola van Wijk

Der Betrachter ist der jungen Frau ganz nahegerückt. Die illusionistische Darstellung der Lesenden geht über die Wirklichkeitsnähe früherer Interieurszenen Vermeers hinausgeht. Ein starker Lichteinfall von links legt weiche Lichthöfe an die Konturen und hinterlässt farbige Schatten auf der Wand. Eine Landkarte mit der Ansicht von Holland und Westfriesland hinterfängt die junge Frau – eine Anspielung auf einen auswärtigen Briefabsender?

Johannes Vermeer, Briefleserin in Blau, um 1663 Öl auf Leinwand, 46,5 x 39 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Leihgabe der Stadt Amsterdam, Inv.-Nr. SK-C-251, Amsterdam, © Rijksmuseum, Foto: Carola van Wijk

Die elegante Musikerin wendet sich mit offenem Ausdruck ihrem Gegenüber zu. Das Bild des Liebesgottes hinter ihr spricht eine deutliche Sprache: Die Harmonie der Musik möge in einen Gleichklang der Herzen übergehen. Sie steht genau in der Mitte eines lichtdurchfluteten Raumes, dessen Einrichtungsstücke in ihrer klaren geometrischen Form auf sie bezogen sind. Die Idealisierung ihrer Gestalt und die Neigung zu abstrakten Formen entsprechen einer allgemeinen Stilentwicklung in den 1670er Jahren.

Johannes Vermeer, Junge Dame am Virginal stehend, um 1670-1672 Öl auf Leinwand, 51,7 x 45,2 cm, London, National Gallery, Inv.-Nr. NG 1383, London, © National Gallery

Maltechnik

Licht, Raum und Struktur Vermeers Maltechnik

Das Brieflesende Mädchen am offenen Fenster (1657-59) von Johannes Vermeer im Detail Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657–1659, Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Video: Jürgen Lange

Schriftliche Zeugnisse oder Zeichnungen, die etwas über Vermeers kreativen Prozess aussagen könnten, sind nicht überliefert. Moderne Analyseverfahren jedoch machen Dinge sichtbar, die das bloße Auge nicht erkennt: Korrekturen in der Malschicht offenbaren, dass Vermeer während des Malprozesses Bildelemente hinzufügte, entfernte oder veränderte. Sein Augenmerk lag auf einer möglichst perfekten, ausgewogenen Komposition

Vermeers Malweise entsprach der zu seiner Zeit gängigen Praxis. Seine Palette – die etwa 20 vom Künstler verwendeten Farben – unterschied sich nicht von der seiner Zeitgenossen. Neben farbigen Erden setzte der Künstler aus Mineralen hergestellte Farben ein. Häufig verwendete er das teuerste dieser Pigmente, das aus Lapislazuli gewonnene Ultramarin. Die besondere Leuchtkraft einzelner Bildpartien erzielte er durch den Einsatz von Bleiweiß und Bleizinngelb.

Johannes Vermeer, Briefleserin in Blau, um 1663 Öl auf Leinwand, 46,5 x 39 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Leihgabe der Stadt Amsterdam, Inv.-Nr. SK-C-251, Amsterdam, © Rijksmuseum, Foto: Carola van Wijk
(1) Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59; (2) Gerard ter Borch, Briefschreibende Frau, um 1655 (rechts) (1) Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische; (2) Öl auf Holz, 38,3 x 27,9 cm, Den Haag, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis, Schenkung Sir Henri W.A. Deterding, Inv.-Nr. 797, Den Haag, © Mauritshuis, Foto: Margareta Svensson (rechts)

Vermeer setzte Farbe innovativ und sehr variabel ein: Aus Untermalungen und Lasuren bestehende Farbschichten erzeugen optische und strukturelle Effekte, die Wirklichkeit vortäuschen. Durch einen pastosen Farbauftrag erlangen die dargestellten Dinge eine beinahe greifbare Qualität. Der Teppich in der Dresdner Briefleserin mit seinen hellen Lichtpunkten zeigt das eindrucksvoll, besonders im Vergleich mit einem Bilddetail von Gerard ter Borch.

(1) Johannes Vermeer, Junge Dame am Virginal stehend, um 1670-1672; (2) Caspar Netscher, Musizierendes Paar, 1666 (1) Öl auf Leinwand, 51,7 x 45,2 cm, London, National Gallery, Inv.-Nr. NG 1383, London, © National Gallery; (2) Öl auf Eichenholz, 59,5 x 46 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1349, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel (rechts)

Vermeers Malerei ist konzentriert auf das Zusammenspiel von Licht und Farbe. Im Vergleich mit einem Werk Caspar Netschers wird der Unterschied deutlich: Vermeer erfasste Lichteffekte so, wie das Auge sie aufnimmt – nicht als bereits verarbeitetes Gesamtbild. Im Laufe seines Schaffens wird der Farbauftrag in seinen Werken glatter und feiner. Im Spätwerk definierte Vermeer Oberflächen durch abstrakte Formen und eine dekorative Pinselschrift, seine Maltechnik vereinfacht sich.

Ich machte mich auf den Weg, um den gefeierten Maler namens Vermeer zu besuchen, der mir einige Beispiele seines Könnens zeigte, deren außergewöhnlichster und bemerkenswertester Aspekt die Perspektive ist.

1669 Pieter Teding van Berckhout

Vermeer und die Perspektive

Vermeers Werke zeugen von seiner Kenntnis der Gesetze der Zentralperspektive. Es wird vermutet, dass Vermeer die räumliche Anlage seiner Gemälde mittels einer einfachen mechanischen Methode direkt auf der Leinwand festlegte: Im Fluchtpunkt der Komposition fixierte man einen Nagel, von dem aus mit Hilfe eines gespannten Stricks die korrekten Fluchtlinien ermittelt wurden. Nicht alle seiner Gemälde folgen jedoch einer exakten Perspektive. Vielfach setzte Vermeer offenbar die Beobachtung der Wirklichkeit an die Stelle der mathematischen Konstruktion.

Restaurierung

Restaurierung eines Meisterwerks

Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59 Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische

Mehr als 250 Jahre lang sah man Johannes Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster vor einer kahlen grauen Wand stehen. Nach der Restaurierung des Gemäldes von 2017-2021 ist dort ein großformatiges Bild mit einem kleinen Liebesgott (Cupido) freigelegt. Von der Existenz eines später übermalten Bildes im Bild wusste man bereits seit 1979. Neu ist die Erkenntnis, dass die Übermalung des Liebesgottes nicht auf Vermeer zurückging.

Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, 1657-1659, (1) Zustand vor der Restaurierung, (2) Zustand nach der Restaurierung Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Fotos: (1) Wolfgang Kreische, (2) Herbert Boswank

Millimeter für Millimeter

Die am Anfang der Restaurierung stehende Firnisabnahme und eine anschließende Entnahme von Farbproben erbrachten ein erstaunliches Ergebnis: Zwischen der originalen Farbschicht des Cupidos und der Übermalungsfarbe lag eine zweifache Firnis- und Schmutzschicht. Die Übermalung konnte also erst längere Zeit nach der Fertigstellung des Gemäldes aufgetragen worden sein.

Eine Expertenkommission entschied 2017, diese Übermalung zugunsten des Originals von Vermeer abzunehmen. Daraufhin wurde sie Millimeter für Millimeter mit einem Skalpell unter dem Mikroskop entfernt. Zum Vorschein kam das ausgezeichnet erhaltene und bereits gealterte Bild eines nackten, blonden Knaben mit einem Bogen in der Hand.

Kurzfilm zur Restaurierung des Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster (1657-59) von Johannes Vermeer © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Video: Jürgen Lange

Der Cupido wird übermalt

Warum hat man ein solch großes Bildelement unsichtbar gemacht? Zum Zeitpunkt der Übermalung war das Cupido-Bild offenbar in gutem Zustand. Es wurde wohl aus ästhetischen Gründen aus dem Gemälde getilgt. Im Jahr 1742, bei der Erwerbung für den sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. wird das bildwichtige Detail schon nicht mehr erwähnt. Die Spur führt nach Paris, wo das Brieflesende Mädchen zusammen mit anderen Gemälden vor der Reise nach Dresden in den Händen eines Restaurators war.

Vermeer experimentiert

Im Laufe der Entstehung des Brieflesenden Mädchens prüfte Vermeer verschiedene kompositorische Optionen, um die Raumtiefe im Bild zu steigern: Ein großes Römerglas unten rechts im Bild, oder ein Stuhl mit geschnitzten Löwenköpfen vor der vorderen Tischkante sollten Raumtiefe schaffen. Beide Motive hat Vermeer wieder übermalt. Er entschied sich für einen illusionistischen Vorhang an der rechten Bildseite, der das ganze Gemälde zu fast einem Drittel verdeckt. Auch die Briefleserin war zunächst stärker zur Wand gedreht. Die Reflexion ihres Gesichts im Fenster spiegelt noch heute ihre ursprüngliche Position wider.

Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59, (1) nach der Restaurierung, (2) Röntgenbild vor der Restaurierung Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, (1) Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Herbert Boswank, (2) Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden und Fine Arts Museum of San Francisco, Foto: Wolfgang Kreische

Das Röntgenbild zeigt das große, mit Weinlaub umrankte Römerglas mit Beerennuppen-Fuß in der rechten vorderen Bildecke.

Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59, (1) nach der Restaurierung, (2) Infrarotreflektografie vor der Restaurierung Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Fotos: (1) Herbert Boswank, (2) Konstanze Krüger und Christoph Schölzel

Die Infrarotreflektografie zeigt auf dem Tisch links vom Vorhang die Umrisse eines Löwenkopfes, wie er den Spanischen Stuhl in der Zimmerecke schmückt. Man erkennt auch die ursprünglichen Umrisse der gedrehten Mädchenfigur.

Lernen von den Kollegen

Vermeer entwickelte seine Malerei am Vorbild der Werke seiner Zeitgenossen. Mit der Hinwendung zu intimen Genrebildern war er Ende der 1650er Jahre bei seinem eigentlichen künstlerischen Thema angekommen. Das Brieflesende Mädchen am offenen Fenster steht exemplarisch für diese Entwicklung.

(1) Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59, (2) Gerard Houckgeest, Die Oude Kerk in Delft, 1654 (1) Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische; (2) Öl auf Holz, 49 x 41 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Erworben mit Unterstützung der Vereniging Rembrandt, Inv.-Nr. SK-A-1584, Amsterdam, © Rijksmuseum, Foto: Frans Pegt

Vermeers Entscheidung für den Vorhang zeigt sein Interesse an der Delfter Architekturmalerei. Besonders die Kircheninterieur-Darstellungen von Gerard Houckgeest und Hendrick van Vliet mit ihren augentäuschend gemalten, vorgeblendeten Rahmen mit grünem Vorhang beeindruckten ihn. Vermeer übernahm dieses illusionistische Motiv. Die Unterscheidung zwischen Bild- und Betrachterraum fällt in seinem Gemälde allerdings schwer.

(1) Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59, (2) Frans van Mieris, Dame am Cembalo, 1658 (1) Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische; (2) Öl auf Holz, 31,6 x 24,9 cm, Schwerin, Staatliche Schlösser, Gärten und Kunstsammlungen Mecklenburg-Vorpommern, Staatliches Museum, Inv.-Nr. G 82 © Staatliche Schlösser, Gärten und Kunstsammlungen Mecklenburg-Vorpommern, Foto: Elke Walford

Anregungen für die stehende Einzelfigur empfing Vermeer u.a. von den frühen Genrebildern des Leidener Malers Frans van Mieris. Dessen grazile, elegante Frauenfiguren, z.B. in der Dame am Cembalo, zeigen eine Verwandtschaft zu Vermeers etwa zeitgleich entstandener Gestalt der Dresdner Briefleserin.

(1) Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59, (2) Caesar van Everdingen, Amor mit Glaskugel, um 1655-1660 (1) Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische; (2) Öl auf Leinwand, 88,5 x 102 cm, Privatsammlung, Courtesy Städel Museum, © Privatsammlung, Foto: Horst Ziegenfuß

Wie jenes Gemälde aussah, das Vermeer für das Bild im Bild mit dem Liebesgott als Vorbild diente, ist bis heute nicht geklärt. Wahrscheinlich hatte er das Werk eines klassizistischen Malers vor Augen. Es könnte Ceasar van Everdingens Amor mit der Glaskugel ähnlich gewesen sein.

Vom Innehalten

Vom Innehalten

Johannes Vermeer, Frau mit Waage, um 1664 Öl auf Leinwand, 39,7 x 35,5 cm, Washington, National Gallery, Widener Collection, Inv.-Nr. 1942.9.97, Washington, © National Gallery of Art

Genreszenen mit einer einzelnen Frauenfigur machen einen wichtigen Teil von Vermeers Œuvre aus. Sie bestechen durch die Ausgewogenheit ihrer Kompositionen, die raffinierte Lichtführung und die Brillanz der Farben. Die Frauen sind mit alltäglichen Dingen beschäftigt. Doch ihre innere Ruhe und Seelenkraft verleihen ihrer Darstellung etwas Symbolisches und Existenzielles. Darin unterscheidet sich Vermeers Genremalerei von den erzählerischen Schilderungen seiner Zeitgenossen.

Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59 Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische

Das kürzlich freigelegte Hintergrundbild in Vermeers Brieflesendem Mädchen am offenen Fenster hat den symbolischen Gehalt des Gemäldes wieder ans Licht gebracht. Das Motiv des Liebesgottes, der in eine Maske tritt, geht zurück auf einen Kupferstich in einem Emblembuch. Dessen Botschaft „Wahre Liebe überwindet Täuschung und Betrug“ haben Vermeers Zeitgenossen mit der ganz ins Lesen vertieften jungen Frau verknüpft.

Johannes Vermeer, Junge Dame mit Perlenhalsband, um 1662-1665 Öl auf Leinwand, 56,1 × 47,4 cm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 912B © Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie, Foto: Christoph Schmidt

Beim Anlegen ihrer Perlenkette fällt der Blick der jungen Frau in den Spiegel – und scheint dort einen Augenblick zu verweilen. Vermeer hat diesem Moment in seinem Gemälde Dauer verliehen. Ihre aufrechte Gestalt in einer Garderobe aus fein abgestimmten Gelb-, Braun- und Weißtönen hebt sich vom lichten Grau der leeren Wand ab. Vermeer wählte ein modernes Thema, zu dem er durch andere Künstler angeregt wurde, die er in der psychologischen Klarheit und Tiefe seiner Schilderung weit übertrifft.

Johannes Vermeer, Frau mit Waage, um 1664 Öl auf Leinwand, 39,7 x 35,5 cm, Washington, National Gallery, Widener Collection, Inv.-Nr. 1942.9.97, Washington, © National Gallery of Art

Umflossen von gedämpftem Licht steht eine Frau an einem Tisch, auf dem Perlenschmuck und Goldmünzen ausgebreitet sind. Konzentriert und gelassen zugleich scheint sie das Gleichgewicht der leeren Waage zu prüfen, die sie in ihrer Rechten hält. Als Bild im Bild an der Rückwand adaptierte Vermeer wahrscheinlich eine ältere flämische Darstellung des Jüngsten Gerichts. Es ist ein Abwägen zwischen weltlichen, vergänglichen Reichtümern und inneren, spirituellen Werten, das in der in sich ruhenden Gestalt seinen Ausdruck findet.

Religion in den Niederlanden

Die Situation der Religionen in den Vereinigten Niederlanden war das Resultat politischer und religiöser Konflikte, die auf das 16. Jahrhundert zurückgehen. Der Kampf der protestantischen nördlichen Provinzen gegen die Macht der katholischen Habsburger im Süden führte zu einer territorialen und religiösen Spaltung. In deren Folge entwickelte sich in den Vereinigten Provinzen im Norden eine europaweit einzigartige religiöse Toleranz. Unterschiedliche protestantische Gruppen und Glaubensgemeinschaften existierten nebeneinander. Aus ganz Europa wanderten verfolgte Protestanten, Juden und Hugenotten in die Nördlichen Niederlande ein. Neben der vorherrschenden reformierten Kirche der Calvinisten existierten Mennoniten und Wiedertäufer. Mitglieder der katholischen Kirche, die auch im Norden weiterbestand, wurden dagegen in ihrer Glaubensausübung stark eingeschränkt, öffentliche Gottesdienste waren verboten.

Die ganze Welt im Bild

Die ganze Welt im Bild

Johannes Vermeer, Briefleserin in Blau, um 1663 Öl auf Leinwand, 46,5 x 39 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Leihgabe der Stadt Amsterdam, Inv.-Nr. SK-C-251, Amsterdam, © Rijksmuseum, Foto: Carola van Wijk

Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster ist von exotischen und luxuriösen Dingen umgeben. Die bürgerliche Mittel-und Oberschicht Hollands legte Wert auf eine gediegene, Weltoffenheit ausstrahlende Einrichtung. Der Fern- und Seehandel in Europa, mit der Türkei, China und dem Fernen Osten sorgte für ein reiches Angebot an fremdländischen Gütern aller Art. Letztlich profitierte nur eine Elite von den Geschäften holländischer Kaufleute, die – etwa in Asien – auf dem Rücken der ahnungslosen kolonisierten Bevölkerung abgewickelt wurden.

Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59 Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische

Wirtschaftswunder Niederlande

Ende des 16. Jahrhunderts begann der beispiellos Aufstieg der nördlichen Provinzen der Niederlande zur führenden Wirtschaftsmacht. Die Hafen- und Speicherstadt Amsterdam entwickelte sich zum bedeutendsten Handelszentrum Europas. Die Gründung der Vereinigten Ostindischen und der Westindischen Kompanie beförderten zu Beginn des 17. Jahrhunderts den niederländischen Seehandel. Holländische Handelsschiffe, die Waren aus vier Kontinenten in die Niederlande brachten, beherrschten die Weltmeere. Neben einer großen Warenbörse betrieb Amsterdam eine Wechselbank, die den internationalen Zahlungsverkehr regelte. Ein solides Steuer- und Finanzsystem machte die Vereinigten Provinzen und ihre Unternehmen weltweit zu begehrten Geschäftspartnern. Der weit überdurchschnittliche Wohlstand breiter Schichten der holländischen Bevölkerung trug zum Aufblühen von Wissenschaft und Kunst im so genannten Goldenen Zeitalter bei.

Wallerant Vaillant, Ein Brett mit Briefen, Federmesser und Schreibfeder hinter roten Bändern, 1658 Öl auf Papier, auf Leinwand gezogen, 51,5 x 40,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1232, Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel und Hans-Peter Klut

Briefe verbinden

Das Schreiben und Austauschen von Briefen bedeutete für die Niederländer im 17. Jahrhundert die Öffnung zur Welt. Für eine Handelsnation, deren männliche Bewohner teils oft jahrelang auf Reisen waren, gehörte der Briefverkehr zu den Voraussetzungen einer florierenden Wirtschaft und eines funktionierenden Gemeinwesens. Das Verfassen von Briefen wurde zu einer weitverbreiteten Mode. Gern nutzte man dafür gedruckte Anleitungen, die Beispielbriefe für die unterschiedlichsten Anlässe bereithielten.

Gerard ter Borch, Briefschreibende Frau, um 1655 Öl auf Holz, 38,3 x 27,9 cm, Den Haag, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis, Schenkung Sir Henri W.A. Deterding, Inv.-Nr. 797, Den Haag, © Mauritshuis, Foto: Margareta Svensson

Gerard ter Borch schuf zahl­reiche Bilder schreibender und lesender Personen und prägte damit das Genre für eine ganze Künstlergeneration. Um 1655 entstanden, ist dieses intime kleine Gemälde die erste bekannte Darstellung einer Briefschreiberin in der holländischen Genremalerei. Es zeigt Gesina, die Halbschwester des Malers, beim sorgfältigen Fertigstellen eines Briefes, während ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht liegt.

Gabriel Metsu, Briefschreibender Mann, um 1664-1666 Öl auf Holz, 52,5 x 40,2 cm, Dublin, National Gallery of Ireland, Inv.-Nr. NGI.4536, Dublin, © National Gallery of Ireland, Foto: Roy Hewson

Ein junger Gentleman sitzt in eleganter Pose am Tisch und verfasst einen Brief. In seinem reich ausgestatteten Raum ist er von Attributen der Ferne umgeben: ein persischer Teppich liegt auf dem Tisch, ein Globus scheint durch die Fensterscheiben, das Bild an der Wand zeigt eine italienisch anmutende Landschaft. Beim Schreiben scheint er ganz auf die abwesende Empfängerin seiner Zeilen konzentriert zu sein.

Gabriel Metsu, Brieflesende Frau, 1664-1666 Öl auf Holz, 52,5 x 40,2 cm, Dublin, National Gallery of Ireland, Inv.-Nr. NGI.4537, Dublin, © National Gallery of Ireland, Foto: Roy Hewson

Die Gegenstücke Brieflesende Frau und Briefschreibender Mann zeigen motivisch und stilistisch eine besondere Nähe zu Gemälden Vermeers. Im Zentrum dieser Darstellung steht das Lesen eines Briefes. Die elegant gekleidete junge Frau hat ihre Handarbeit unterbrochen und hält den Brief ins Licht. Die Magd öffnet das Bild an der Wand für die Blicke des Betrachters. Man erkennt ein Schiff in aufgewühlter See – ein Hinweis auf die Unbeständigkeit, die dem Meer ebenso wie der Liebe eigen ist.

Gerard ter Borch schuf zahl­reiche Bilder schreibender und lesender Personen und prägte damit das Genre für eine ganze Künstlergeneration. Um 1655 entstanden, ist dieses intime kleine Gemälde die erste bekannte Darstellung einer Briefschreiberin in der holländischen Genremalerei. Es zeigt Gesina, die Halbschwester des Malers, beim sorgfältigen Fertigstellen eines Briefes, während ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht liegt.

Johannes Vermeer, Briefleserin in Blau, um 1663 Öl auf Leinwand, 46,5 x 39 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Leihgabe der Stadt Amsterdam, Inv.-Nr. SK-C-251, Amsterdam, © Rijksmuseum, Foto: Carola van Wijk

Wissenschaft im Dienste des Handels

Im 17. Jahrhundert herrschte in den Nördlichen Niederlanden ein Klima größter Offenheit für alle Zweige der Wissenschaft. Forscher aus vielen Teilen Europas publizierten hier ihre Schriften und lehrten an einer der zahlreichen Universitäten. Wegweisende neue Erkenntnisse in den Naturwissenschaften, der Medizin und Biologie, der Astronomie, Geografie und Optik wurden zur Grundlage spektakulärer Erfindungen und praktischer Neuerungen für die holländische Gesellschaft. Hochgebildete Akademiker wie Christiaan Huygens und vielseitig interessierte Praktiker wie Antoni van Leeuwenhoek waren in elitären Kreisen miteinander und international vernetzt. Der Fern- und Seehandel trug durch die Vermittlung neuen Wissens über ferne Weltgegenden und deren Fauna und Flora zur Erweiterung des Horizonts bei.

Zwei­mal stell­te Vermeer die Fi­gur ei­nes jun­gen Natur­for­schers in den Mittel­punkt eines Ge­mäl­des: Wahr­schein­lich ent­stan­den die als Ge­gen­stücke kon­zi­pier­ten Bil­der Der Geo­graf und Der As­tro­nom als Auf­trags­wer­ke. Die Na­tur­wissen­schaf­ten, vor allem die Kar­to­gra­fie und As­tro­no­mie, waren für eine See­fahrer­nation wie die Nie­der­lan­de besonders wichtig. Vermeers ge­danken­ver­sunkener Geo­graf ver­tritt einen mo­dernen Typus des ju­gend­lichen, ver­geis­tigten, zugleich welt­offenen For­schers.

Johannes Vermeer, Der Geograph, um 1669 Öl auf Leinwand, Frankfurt, Städel Museum, Inv.-Nr. 1149 © Städel Museum, Frankfurt am Main

Die Sprache der Bilder

Die Sprache der Bilder

Johannes Vermeer, Junge Dame am Virginal stehend, um 1670-1672 Öl auf Leinwand, 51,7 x 45,2 cm, London, National Gallery, Inv.-Nr. NG 1383, London, © National Gallery

Niederländische Genrebilder des 17. Jahrhunderts vermitteln auf den ersten Blick den Eindruck wirklichkeitsgetreuer Darstellungen von Szenen des täglichen Lebens. Dieser Eindruck ist falsch. Die Maler schufen im Atelier unter Einbeziehung zahlreicher realer Details kunstvoll komponierte Idealbilder, die dem Betrachter eine Realität vortäuschen sollten. Sie benutzten lebensnah erscheinende Darstellungen, um bestimmte Ideen mitzuteilen, Warnungen oder Mahnungen auszusprechen. Um eine gewöhnliche Szene mit einem verborgenen, z.B. belehrenden Inhalt zu verbinden, bedienten sich die Maler der Verhüllung und Verschleierung. Den tieferen Sinn aus diesen Bildern herauszulesen, galt im 17. Jahrhundert als Herausforderung und Vergnügen.

An den Wänden der zahlreichen Interieurszenen finden sich Bilder aller Art. Sie gehörten im 17. Jahrhundert zur selbstverständlichen Ausstattung holländischer Haushalte der Mittel-und Oberschicht. Der Grund für ihre Anwesenheit liegt oft neben dem rein dekorativen Zweck in einer kalkulierten, damals allgemein verständlichen Bildsprache: Das Bild im Bild wird der Hauptszene des Gemäldes als Kommentar hinzufügt und beeinflusst die Rezeption des Gesamtwerks. Auch Johannes Vermeer bediente sich dieses künstlerischen Mittels.

Vermeer verweist in vier seiner Werke direkt auf das Thema der Liebe, indem er den Liebesgott als Bild im Bild in die Kompositionen einfügte. Das Motiv war aus einem populären Emblembuch von Otto van Veen allgemein bekannt. Wie im Gemälde Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster tritt Cupido auch im Emblem Inconcussa Fide auf die am Boden liegende Maske: Wahre Liebe verlangt Aufrichtigkeit, nur sie überwindet Heuchelei und Täuschung.

Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59 Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische
Cornelis Boel, Inconcussa fide (Oprecht) [28] (aus: Otto van Veen, Amorum emblemata, Antwerpen 1608) Kupferstich, 20,2 × 15,1 cm Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staatsund Universitätsbibliothek, Signatur: Art.plast. 1176, Dresden, © Sächsische Landesbibliothek – Staats und Universitätsbibliothek / Deutsche Fotothek, Foto: Lydia Pokoj

Für einen Moment ist die Aufmerksamkeit der jungen Frau vom gemeinsamen Musizieren abgelenkt; ihr Blick ist direkt auf uns gerichtet. Das Bild eines Liebesgottes an der Wand im Hintergrund zeigt, dass das Anliegen des Herrn neben ihr über das Musizieren hinausgeht: Das musikalische Harmonieren steht sinnbildlich für die erhoffte Vereinigung der Seelen.

Johannes Vermeer, Die unterbrochene Musikstunde, um 1658/59 Öl auf Leinwand, 39,4 x 44,5 cm, New York, The Frick Collection, Henry Clay Frick Bequest, Inv.-Nr. 1901.1.125, New York, © The Frick Collection, Foto: Michael Bodycomb

Die stehende Musikerin am Virginal, einem damals verbreiteten Tasten­instrument, hat ihren Kopf dem offenbar erwarteten Partner zugewandt. Das Bild eines Amorknaben hängt hinter ihr prominent an der Wand. Die Symbolik der Darstellung ist unübersehbar: Die Liebe hat nur dem einen zu gehören, dessen Herz sich mit dem ihren in musikalischem Gleichklang verbindet. Die Landschaft auf dem Instrumentendeckel fügt dem jedoch noch eine Mahnung hinzu: Steinig ist der Pfad der Tugend.

Johannes Vermeer, Junge Dame am Virginal stehend, um 1670-1672 Öl auf Leinwand, 51,7 x 45,2 cm, London, National Gallery, Inv.-Nr. NG 1383, London, © National Gallery

Oh, Mistress Mine William Byrd (um 1543–1623)

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Interpret: Michael Tsalka, Instrument: Doppelvirginal nach Johannes Ruckers (1623), Original im Bestand des Landesmuseums Stuttgart, Erbauer: Christian Fuchs, Frankfurt a. M.

© Verwendung der Aufnahme mit freundlicher Genehmigung von Michael Tsalka und Christian Fuchs.

Emblemliteratur in den Niederlanden

Als wichtige Hilfsmittel für die Deutung verborgener Inhalte in Bildern der niederländischen Genremalerei dienten zeitgenössische literarische Schriften und Druckgrafiken. In Emblembüchern, einer literarischen Sonderform, wurden Bilder und Texte, meist nach Themen geordnet, zusammengeführt. Sie waren in der Regel dreiteilig und bestanden aus einem Motto, das über einem Bild stand und das Thema vorgab, sowie dem Epigramm, einer meist in Versform abgefassten Erklärung zu Bild und Motto. Die Kenntnis der Emblemliteratur war für das Entschlüsseln verborgener Bildinhalte von zentraler Bedeutung. Die zur Zeit Vermeers bekanntesten und beliebtesten Emblembücher stammten von Otto van Veen (Amorum emblemata, 1608), Daniel Heinsius (Ambacht van Cupido, 1615) und Jacob Cats (Sinne – en minnebeelden, 1627).

Gabriel Metsu, Das Geschenk des Jägers, um 1658-1661 Öl auf Leinwand, 51 x 48 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Leihgabe der Stadt Amsterdam (Vermächtnis A. van der Hoop), Inv.-Nr. SK-C-177, Amsterdam, © Rijksmuseum, Foto: Frans Pegt

Das Angebot des Jägers, der einer sitzenden jungen Dame ein totes Rebhuhn reicht, hat einen anrüchigen Bei­geschmack. Die Szene wurde von Metsus Zeitgenossen unschwer als Einladung zum Sex erkannt, stand doch der niederländische Begriff vogelen (vögeln) für den Beischlaf, einen Liebhaber nannte man vogelaar (Vogelfänger). Das geladene Gewehr am Boden verstärkt diese Lesart, während die kleine Amorfigur auf dem Schrank den Geist der Liebe beschwört. Die Frau bleibt jedoch vage: während sie den Vogel mit Interesse betrachtet, greift ihre Hand zum Gebetbuch.

Pieter Cornelisz. van Slingelandt, Die Sängerin am Virginal, um 1670-1680 Öl auf Eichenholz, 32,5 x 26 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1763, Dresden, © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel

Die raffiniert gekleidete und mit einem exotischen Federkopfputz ausstaffierte junge Sängern hat sich neben einem geöffneten Cembalo in Position gebracht und erwartet ihren musikalischen Begleiter. Das geöffnete Notenheft und die erhobene Hand zeigen, dass sie im nächsten Moment ihren Gesang anstimmen wird. Die enge Verbindung von Musik und Liebe ist ein wiederkehrendes Thema in Literatur und Malerei im 17. Jahrhundert. Die auffälligen Federn geben der Szene jedoch einen negativen Beigeschmack, sie stehen für Unkeuschheit und Sünde.

Frans van Mieris, Die Austernmahlzeit, 1661 Öl auf Holz, 27,6 x 20,8 cm, Den Haag, Koninklijk Kabinet van Schilderijen, Mauritshuis, Schenkung Sir Henri W.A. Deterding, Inv.-Nr. 819, Den Haag, © Mauritshuis, Foto: Margareta Svensson

Die innige Verbindung von Frau und Mann schildert Frans van Mieris hier in einem ganz persönlichen Kontext: Es sind der Maler und seine verführerisch gekleidete Gattin Cunera van der Cock selbst, die sich Blicke der Liebe zuwerfen. Das Anbieten von Austern auf einem Silbertablett steigert die Szene noch ins Erotische, denn der Verzehr der Meeresfrüchte, ein Aphro­di­si­akum, galt als Symbol für die fleischliche Liebe.

Das Angebot des Jägers, der einer sitzenden jungen Dame ein totes Rebhuhn reicht, hat einen anrüchigen Bei­geschmack. Die Szene wurde von Metsus Zeitgenossen unschwer als Einladung zum Sex erkannt, stand doch der niederländische Begriff vogelen (vögeln) für den Beischlaf, einen Liebhaber nannte man vogelaar (Vogelfänger). Das geladene Gewehr am Boden verstärkt diese Lesart, während die kleine Amorfigur auf dem Schrank den Geist der Liebe beschwört. Die Frau bleibt jedoch vage: während sie den Vogel mit Interesse betrachtet, greift ihre Hand zum Gebetbuch.

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